Die neue Zerhackstückelung der Welt
Rudolf Stumberger 03.01.2007
Der Bürger-Journalismus als Farce der Partizipation
Dass sich Geschichte nur als Farce wiederholt, wer möge dies angesichts der neuesten - im technokratendeutsch würde man sagen "Implementierungen" - im journalistischen Felde bestreiten. Der Bürger wurde als Journalist und Kommentator des Weltgeschehens entdeckt und ist jetzt aufgefordert, eine "völlig neue Art von Journalismus" zu betreiben, so etwa die ReadersEdition , ein Ableger der "Netzzeitung". Die "Bild-Zeitung" ist von ihren Leser-Reportern begeistert und die "Welt" weiß gar: "Der Laienjournalismus verändert die Medien."
Ist er also wahr geworden, der Traum der bärtigen Alt-68-er, die mit der Parole "Jeder ein Sender, jeder ein Empfänger" auf den Lippen jahrzehntelang das hohe Lied der Graswurzelmedien sangen?
Freilich, dass die schreibende oder fotografierende Beteiligung der Bürger ein völlig neuer Journalismus sei, kann nur behaupten, wer seinen historischen Horizont an der Erfindung der "Kinderschokolade" ausrichtet. Es waren die Zuschriften der Arbeiter aus St. Petersburg und Moskau an die im Genfer Exil sitzende Redaktion der Zeitschrift "Iskra" (der Funke) Ende des 19. Jahrhunderts, die den Ursprung der so genannten Volkskorrespondenten in der späteren Sowjetunion bildeten.
Arbeiter und Bauern betätigten sich als Laienjournalisten und lieferten Beiträge für die Zeitungen. 1925 gab es rund 150.000 dieser Korrespondenten. Diese Zulieferung von publizistischem Material durch Bürger beschränkte sich nicht auf den Text, sondern die Laienreporter griffen auch zur Kamera. Es ist schon eine gewisse Pointe der Geschichte, dass der Bildzeitungs-Bürger-Fotoreporter sozusagen - jedenfalls medienhistorisch - in die Fußstapfen des Foto-Volkskorrespondenten der Sowjetunion tritt - rund 100.000 derart mit einer Kamera bewaffneten Genossen soll es damals gegeben haben.
Verblüffend sind auch die Parallelen zwischen Bolschewiken und Bildzeitung - das Denunziantentum zum Beispiel. Wo der Volkskorrespondent aufgerufen war, die Folgen des Alkoholismus am Arbeitsplatz zu fotografieren und an der Fabriks-Wandzeitung anzuprangern, fotografiert der moderne Bildzeitungsvolkskorrespondent gerne den
Im Laufe des ersten Fünf-Jahres-Plans der Sowjetunion nahmen die Fotokorrespondenten an sogenannten "rejdy" teil - publizistische "Sturmangriffe" der Laienjournalisten, die einen Betrieb und ein Dorf nach dem anderen aufsuchten und inspizierten. Auch die Aktion der Bildzeitung kann man sich als einen allgemeinen Sturmangriff der Bürger auf sich selbst vorstellen, wenn auch "Bilder, auf denen ‚nur' der Promi oder das Naturereignis zu sehen sind", die "beste Chance auf Veröffentlichung" haben.
Gleichwohl, wo der Volkskorrespondent immerhin noch in einem sinnhaften (wenn auch streng ideologischen) Zusammenhang eingebettet war, ist das Ergebnis der heutigen Volkskorrespondenten die endgültige Zerhackstücklung der Welt auf niedrigstem Niveau. Wenn Verleger in Sonntagsreden gerne auf die zunehmende Bedeutung des Journalismus als Orientierungsgeber in einem unbegrenzten Ozean an fragmentierten Daten und Einzelphänomen hinweisen, ist diese Anhäufung von subjektiven Ansichten genau das Gegenteil. Der "Bild-embedded" Handy-Amateur-Journalist liefert pixelbasierte Bildfetzchen, die ohne jeden Zusammenhang durch das virtuelle visuelle Universum treiben. Ob Meerschweinchen mit Nikolausmütze, "Pop-Titan" Dieter Bohlen auf Mallorca mit Bildzeitung (was sonst!) oder Komiker Alexander Duszat während eines Spiels Alemannia Aachen gegen Bayern München - es ist egal.
Dieses Prinzip herrscht auch auf den Seiten von "ReadersEdition". Hier gönnt man sich sogar eine Rubrik "Lokales", was angesichts der Ortlosigkeit des Internet eine echte Herausforderung darstellt. Es wundert eigentlich nicht, dass dort dann vom Abschied von Frau Christa Eßmann nach einem Vierteljahrhundert Dienstzeit am Gymnasium Johanneum in Wadersloh berichtet wird, neben dem Bombenfund in Bad Oldesloh und der Wasserausstellung in Spaichingen, wo immer diese Orte sich auch befinden. Oder dass im Ressort "Politik" "auch im neuen Jahr" die Kritik an der bundesdeutschen Politik einfach "weitergeht".
Es ist nicht die Idee der Graswurzelmedien, die in diesen Foren Leben eingehaucht wird - denn das würde - ebenso wie bei den sowjetischen Volkskorrespondenten - so etwas wie einen Sinn- und Handlungszusammenhang voraussetzen. Und es ist auch nicht das Niveau der Texte und Bilder aufs Korn zu nehmen. Bestürzend allerdings ist, wie den Bürgern ihre eigene Bedeutungslosigkeit zynischerweise unter dem Label eines "partizipativen Journalismus" vorgeführt wird. Sie können alles schreiben und abbilden - denn es ist ohne Belang, ihre Statements gehen den Weg in den medialen Orkus, verlieren sich in Beliebigkeit und Zusammenhanglosigkeit. "Wer sind diese Leute?", lautet folgerichtig ein Kommentar zu den "Volksbildern" auf Bild.
Man könnte unter dem Stichwort Bürgerjournalismus hellhörig werden, wenn plötzlich Volkes Stimme gefragt wäre - Grund dazu gäbe es ja angesichts der auseinanderdriftenden Welten von Politikern und Bürgern. Doch diese "neuen" Foren des "Bürgerjournalismus" gehorchen einem Prinzip, das die Partizipation selbst wieder aufhebt und das der französische Medientheoretiker Régis Debray für die Welt der Bilder so formuliert hat: "Wenn alles zu sehen ist, ist nichts mehr von Wert."
Artikel-URL: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24364/1.html
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